Musikinstrumentenmuseum

Art déco & öffentliches Urinieren in Brüssel

26.08.2022
City-Trip

Da wir uns die Entdeckungstour durch die belgische Hauptstadt für das Wochenende vorgenommen haben, begleiten uns unsere Freunde Vera und Carel und geben für uns außerdem die Fremdenführer. Wir starten zu Fuß von ihrer Wohnung im Stadtteil Etterbeek und kommen als erstes zum Parc du Cinquantenaire. Der "Jubelpark" wurde zum 50-jährigen Jubiläum der belgischen Unabhängigkeit um 1880 von König Leopold II in Auftrag gegeben und ist bis heute ein beliebtes Naherholungsziel. An der Ostseite befindet sich ein gigantischer Triumphbogen, dessen Monstrosität allerdings durch ein weiteres Bauwerk im Park fast in den Schatten gestellt wird. Es ist zwar nicht gleich sichtbar, aber in der Mitte des Parks klafft ein riesiges Loch, in dem kurz die Autobahn N3 zu Tage tritt und dann gleich wieder unter dem Park verschwindet. Das wirkt irgendwie brutal und wir müssen kurz an eine Pubquiz-Frage denken, die wir nach unserem Brüssel-Besuch sicher richtig beantworten hätten können ...

In Verlängerung der Parkachse nach Westen erreichen wir bald das EU-Viertel und auch hier schießen einem sofort Adjektive wie monströs, gigantisch und einschüchternd durch den Kopf. Vielleicht liegt es auch daran, dass es Wochenende ist, aber das Viertel ist auffallend menschenleer, was den unbehaglichen Eindruck, den es vermittelt, noch unterstreicht. Wir kommen an riesigen, ziemlich nüchtern wirkenden Gebäuden vorbei, die schon irgendwie aussehen, als wären sie der bauliche Ausdruck der vielzitierten Brüsseler Bürokratie und Regulierungsflut, die Europa zu überschwappen droht. Grundsätzlich sind wir ja keine Verfechter dieser Theorien, aber baulich finden wir das Viertel wirklich nicht recht gelungen. Ganz schön ist allerdings der vor dem EU-Parlament gelegene Place du Luxembourg - kurz Place Lux. Hier findet Donnerstag abends ein Gathering unter freiem Himmel statt, wo die EU-Beamten noch ein Bierchen oder zwei zwitschern, bevor sie für das Wochenende in ihre Heimatländer zurückkehren. Auch wir waren am Donnerstag davor dabei und haben sowohl das internationale Flair als auch das belgische Bier genossen.

Am königlichen Palast Palais de Bruxelles, der irgendwie wie eine plumpere Version des Buckingham Palace wirkt, laufen wir mehr oder weniger vorbei. Am dahinter liegenden Place Royale befindet sich einige Museen - darunter das sicher interessante Magritte-Museum - sowie die neoklassizistische Kirche Saint Jacques-sur-Coudenberg, die überhaupt nicht wie eine Kirche aussieht.

Da wir schon dringend eine Stärkung gebrauchen könnten, beschließen wir, uns im Dachcafé des Musikinstrumentenmuseums einen Kaffee mit Aussicht zu gönnen. Mit dem Aufzug fahren wir in die oberste Ebene des wunderschönen Jugendstilgebäudes, doch leider sind wir nicht die einzigen mit der Spitzen-Idee. Beim besten Willen gibt es hier kein noch so kleines, freies Plätzchen mehr und so ziehen wir unverrichteter Dinge wieder ab. Von dem Platz vor dem Museum hat man allerdings einen hervorragenden Ausblick auf den barocken Garten "Mont des Arts", die Innenstadt und den hoch auf- und alles überragenden Turm des Brüsseler Rathauses.

Dieses befindet sich auf dem überaus bekannten Grand Place (französisch) oder Grote Markt (niederländisch), dem Hauptplatz Brüssels, der von hier nur einen Katzensprung entfernt liegt. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Straßenbezeichnung in Brüssel wirklich konsequent 2-sprachig durchgeführt werden. Auch wir werden versuchen, das in diesem Artikel zu tun.

Obwohl wir den Platz schon oft auf Bildern gesehen haben, ist es doch was ganz anderes selbst hier zu sein. Die mit vielen Details versehenen barocken Gildehäuser bilden zusammen mit dem Rathaus und dem Maison du Roi | Broothuis ein einzigartiges Ensemble. Laut Vera dürfen wir uns auch überaus glücklich schätzen, da zu dem Zeitpunkt unseres Besuches kein einziges Haus am Platz eingerüstet ist, was schon lange nicht mehr der Fall war. Wir finden, dass hier aber auch wirklich hervorragende Arbeit geleistet wurde. Die Fassaden sind makellos restauriert und strahlen richtig. Auffällig am Rathaus im gotischen Stil ist, dass der Turm nicht exakt in der Mitte der Fassadenfront liegt. Dies liegt daran, dass ursprünglich nur einer der Flügel mit einem Eckturm errichtet wurde. Erst als das Rathaus für seine Zwecke zu klein wurde, errichtete man den anderen Flügel, der aber dann aus Platzgründen kürzer ausfiel.

Da wir ja im Musikinstrumentenmuseum um unsere wohlverdiente Stärkung umgefallen sind, holen wir diese stilecht in einem der Cafés am Platz nach. Wir gönnen uns den herbstlichen Temperaturen angemessen eine hervorragende heiße Schokolade.

Für uns vollkommen unverständlich ist, dass - obwohl diese Stadt mit so einem außergewöhnlichen Hauptplatz gesegnet wurde - ihr eigentliches Wahrzeichen eine kleine, pinkelnde Statue ist. Und wenn wir sagen klein, meinen wir überaus klein. Der Manneken Pis ist nur 61cm hoch und total unscheinbar. Da macht es überhaupt nichts, dass die heute zu sehende Statue nicht mehr das Original aus dem 17. Jahrhundert ist, sondern eine "billige" Kopie aus den 60er Jahren. Manchmal wird die Statue kostümiert, so auch zum Zeitpunkt unseres Besuchs, wo sie eine nicht näher definierte Tracht oder auch irgendeine Berufskleidung trägt, so genau wissen wir das nicht. Auch die Maskerade kann uns nicht überzeugen. Das Ganze ist und bleibt eine ziemlich lächerliche und auch etwas geschmacklose Sache.

Sehr gut gefallen uns hingegen die vielen Wandbilder, die es in dieser Gegend an Fassaden und Feuermauern zu bestaunen gibt. Die Lollepotstraat | Rue de la Chaufferette ist unter anderem bekannt dafür.

 

Da Belgien ja auch für seine Vielzahl an Comics, die hier entstanden sind, bekannt ist, ist es nicht weiter verwunderlich, dass uns Tim und Struppi, Idefix und die Schlümpfe nicht nur von Hausmauern anlachen, sondern auch aus den Schaufenstern der unzähligen Comic-Shops.

Wir streifen weiter durch die Brüsseler Innenstadt. Der Stadtteil besitzt noch viel historische Bausubstanz, die kaum von neueren Gebäuden durchsetzt ist. Dies ist insofern erwähnenswert, da es einen Begriff aus der Städteplanung gibt, der das Gegenteil abwertend mit dem Begriff "Brüsselisierung" beschreibt. Er bezeichnet das "unkontrollierte und unpassende Einfügen von großmaßstäblichen Neubauten modernistischer Architektur in historische Stadtteile" (Quelle: www.wikipedia.org). Und tatsächlich, obwohl wir den Begriff erst Dank einer unserer Pubquiz-Runden kennen, ist er in der belgischen Hauptstadt gebaute Wirklichkeit, die bald unangenehm ins Auge fällt.

Das Viertel, in dem wir uns gerade befinden, blieb davon glücklicherweise weitgehend verschont, wie unter anderem die schöne, backsteinerne Markthalle Saint-Géry beweist. Als ob wir noch nicht genug des öffentlichen Urinierens hätten, kommen wir am Zinneke Pis vorbei. Es handelt sich dabei um die Statue eines pinkelnden Hundes, die seit 1998 zu den Nachahmern des Manneken Pis zählt.

Nachdem wir uns bei "Mer du Nord" einen hervorragenden, fischigen Steh-Imbiss gegönnt haben, steht uns der Sinn wieder nach etwas Flüssigem. Diesmal darf es ein wenig gehaltvoller sein, da trifft es sich gut, dass eine Brüsseler Institution auf unserem Weg liegt. Das Delirium, eine etwas schummerige Bar in der Impasse de la Fidélité | Getrouwheidsgang, ist weltbekannt aufgrund ihres umfassenden Bier-Sortiments. Im Angebot sind zwischen 3000 und 4000 verschiedenen Bieren, was bereits mehrfach für einen Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde sorgte. Die Getränkekarte hat Telefonbuch-Ausmaße und so kommen wir nicht umhin, einfach "irgendwas aus Belgien" zu bestellen. Wir nehmen jeder ein anderes Bier, so dass wir besser verkosten können und stellen auf jeden Fall eine Gemeinsamkeit fest: Alle belgischen Biere sind unheimlich stark und reichhaltig. Der Name der Bar ist wirklich trefflich gewählt.

Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass man in einer guten belgischen Bierbar immer das passend auf das Produkt abgestimmte Glas zum Getränk bekommt, was den Geschmack der diversen Sorten noch besser zur Geltung kommen lassen soll. Da wir mit Vera und Carel echte Brüssel- und mittlerweile auch Bierkenner an unserer Seite haben, suchen wir nur gute Bars auf und bekommen auch immer das passende Trinkgefäß. Deren Vielfalt ist auch beachtlich und sicher ebenfalls rekordverdächtig. 

Um die rasch einsetzende Wirkung der belgischen Biere etwas abzufangen, empfehlen wir interimistisch den Genuss einer ordentlichen Tüte "Frites". Die belgischen Pommes sind doppelt in Rinderfett frittiert, was einerseits für einen unverwechselbaren Geschmack sorgt und andererseits beim Biertrinken „unterstützt“. Es ist auch gang und gebe, die auf der Straße gekauften "Frites" in eine Bar mitzunehmen und dort symbiotische zu einem bestellten Bier zu verzehren. 

Pinkelstatue, die Dritte ... Als wir aus dem "Delirium" rauskommen, laufen wir mehr oder minder der Jeanneke Pis, dem weibliche Pendant zum Manneken Pis, in die Hände. Die ebenso kleine Statue befindet sich in einer Fassadennische gleich gegenüber und ist wie ihr männlicher Kollege ziemlich uncharmant und geschmacklos. Immerhin aber wird in Belgien gendergerecht uriniert.

Nach unserem nachmittäglichen Bar-Stopp tut es gut, noch etwas an der frischen Luft zu sein und so setzen wir unseren Weg durch die Innenstadt gerne zu Fuß fort. 

 

Wir gehen Richtung Süden und erreichen dann den Place Poelaert. Hier befindet sich der Justizpalast und der gesamte Platz liegt so erhöht im Stadtgefüge, dass wir von dort einen ziemlich weitreichenden Blick über Brüssel haben. In der Ferne sehen wir sogar das Atomium. In der Nähe leider wieder ein paar besondere Prachtstücke der "Brüsselisierung".

Brüssel besitzt auch weitreichende Bekanntheit aufgrund seiner vergleichsweise vielen und gut erhaltenen Jugendstilbauten. Victor Horta, ein belgischer Jugendstil-Architekt ist hierfür unter anderen verantwortlich. Im Stadtteil Saint-Gilles ist in seinem ehemaligen Wohnhaus und Atelier heute ein Museum untergebracht, das wir uns gerne ansehen möchten. Zu unserem Erstaunen und Entzücken gibt es offenkundig mehr Jugendstil-Fans als gedacht und es stellt sich heraus, dass man ohne Reservierung sehr lange für den Museums-Besuch anstehen muss. Schweren Herzens entscheiden wir, dass wir das nicht tun werden. Wir begnügen uns mit der Außenansicht der Maison Horta und klappern dann noch einige andere Jugendstilhäuser in dem Viertel ab. Sowohl das Hotel Solvay als auch das Hotel Tassel wurden von Horta entworfen. Letzteres besitzt ein wunderschönes Stiegenhaus mit organisch geschwungenem Stiegenlauf und Treppengeländer. Das Gebäude ist nur von außen zugänglich. Netterweise haben die Besitzer aber ein Foto des Stiegenhauses an der Eingangstür hinterlassen.

First things first heißt es eigentlich. Wir allerdings heben uns den Besuch des Atomiums bis zum Schluss unseres Besuchs auf. Bereits in der Abenddämmerung fahren wir mit der Metro in den Norden der Stadt, wo sich in einem Park das für die EXPO 1958 errichtete Konstrukt befindet. Der aus neun Atomen bestehende Kristall wurde 165-milliardenfach vergrößert und symbolisiert das Atomzeitalter sowie die friedliche Nutzung der Kernenergie dar. Obwohl der Symbolik-Ansatz aus heutiger Sicht nicht mehr topaktuell ist und das Thema wesentlich kontroversieller als noch in den 50ern, wirkt das Gebäude als solches immer noch sehr futuristisch. Zudem ist es außerordentlich gut in Schuss, die spiegelnden Atome funkeln richtig. Auf die Aussichtsplattform fahren wir nicht hoch, aber wir machen touri-like einige Ich-trage-das-Atomium-auf-meinen-Schultern- und Spring-Fotos.