Handschoenmarkt

City-Trip in die Diamantenstadt Antwerpen

27.08.2022
City-Trip

Da unsere Freunde heute arbeiten müssen, machen wir diese Sightseeing-Tour nur zu zweit. Von Brüssel bis Antwerpen ist es nicht mal eine Stunde mit dem Zug, die Fahrt vergeht also wie im Nu. Der Antwerpener Bahnhof liegt auch schön zentral, so dass wir gleich mit unserer Sightseeing-Tour beginnen können. Genau genommen beginnt sie schon beim Betreten des Bahnsteigs mit einem absoluten Highlight. Der Bahnhof an sich ist nämlich eine der Hauptsehenswürdigkeiten der flämischen Stadt an der Schelde. Das um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert errichtete Bauwerk besteht aus dem eigentlichen Bahnhofsgebäude und der Gleisüberdachung. Letztere stellt eine Eisen-Glas-Konstruktion dar, die noch auf den Verkehr mit dampfbetriebenen Lokomotiven ausgelegt ist, und daher ziemlich hoch ausfällt. Nicht minder beeindruckend ist das opulent ausgestattete Bahnhofsgebäude im eklektischen Stil. Zusammen werden sie von der Antwerpener Bevölkerung "Eisenbahnkathedrale" genannt. Wir finden auch, dass sich die Kathedrale ziemlich am Riemen reißen muss, um neben dem Bahnhof noch auftrumpfen zu können.

Auf dem Bahnhofsvorplatz fällt uns gleich ein chinesischer Bogen auf, der - wie auch in den USA üblich - den Eingang zur Chinatown markiert. In Antwerpen entstand diese nach dem 2. Weltkrieg, als sich eine asiatische Gemeinde hier niederließ. In Europa haben wir das bislang noch nicht gesehen. Wir sind auf jedenfalls große Fans dieser Bögen und der Chinatowns im Allgemeinen und finden, dass sich die Stadt Wien das auch mal für die Gegend um den Nachmarkt überlegen könnte.

Wir gehen vom Bahnhof nach Osten und kommen bald in die Meir, die Haupteinkaufsstraße Antwerpens. Insgesamt haut es uns hier nicht aus den Socken, es ist halt eine Shopping-Meile wie man sie auch anderswo finden kann. Hervor sticht allerdings der Stadsfeestzaal. Das neoklassizistische Gebäude, das Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurde, fungierte früher als Ausstellungsraum. Nach einem Brand und der darauffolgenden Renovierung ist darin heute ein Luxus-Einkaufszentrum untergebracht, wobei wir ja finden, dass das Gebäude selbst wesentlich exquisiter ist als die darin angebotenen Waren.

Zweimal um die Ecke befindet sich das Rubenshaus, wo der berühmte Peter Paul Rubens wohnte und arbeitete. Da der Maler als bekanntester Antwerpener aller Zeiten gilt, wurde das Gebäude schon früh vom Staat erworben und der Öffentlichkeit als Museum präsentiert. Da wir Kinder der 80er sind, sind uns Antwerpen und Rubens ebenfalls schon seit frühester Kindheit ein Begriff. All jene, die sich auch zu den Sehern der hochgeschätzten Serie "Niklas, ein Junge aus Flandern" zählen, wissen wovon wir sprechen. 

Noch ein Stück weiter westlich liegt der Groenplaats, den ein überlebensgroßes Standbild Rubens' ziert. Von hier hat man schon einen ersten hervorragenden Blick auf die Liebfrauenkathedrale. Sie besitzt zwar nur einen vollständigen Glockenturm, dieser scheint allerdings verglichen mit den anderen Türmen des Gebäudes in den Himmel zu ragen. Der Eindruck wird sicher noch verstärkt durch die extreme Feingliedrigkeit der gotischen Steinmetzarbeiten. Wir sind ganz hingerissen, sind wir doch in puncto Gotik aus Österreich nicht gerade verwöhnt.

Der Hauptzugang zur Kathedrale liegt auf dem Handschoenmarkt. Hier befindet sich das überaus kunstvoll gestaltete, gotische Eingangsportal mit der hierfür klassischen Darstellung des Jüngsten Gerichts. Die Steinmetzfiguren sind teils so weit dreidimensional aus dem Gestein herausgearbeitet, dass sie wie aufgeklebt aussehen. Außerdem befindet sich hier das ebenfalls interessante Denkmal zu Ehren der Kathedralenerbauer Pieter & Jan Appelmans. Besonders angetan haben es uns auch die typisch flämischen Backsteinhäuser, die hier nun in großer Dichte zu finden sind. Eigentlich haben wir uns Antwerpen insgesamt ein bisschen "traditioneller" vorgestellt. Wir sind erst überrascht, dass es nur mehr relativ wenig historische Bausubstanz gibt und wie modern das Stadtbild insgesamt doch ist. Bei genauerer Überlegung ist das allerdings auch nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Antwerpen als eine der wichtigsten Hafenstädte Europas im 2. Weltkrieg stark bombardiert wurde.

Noch ein wenig mehr historisches Stadtbild gibt es auf dem Grote Markt. Die noch aus dem Mittelalter stammenden Gebäude reicher Kaufleute sind wunderschön restauriert und geben uns auch heute noch einen Eindruck davon, wie wohlhabend die Herrschaften damals wohl waren. Besonders entzückend finden wir auch die teils öffentlich zugänglichen Innenhöfe. Darüber hinaus befindet sich auf der Westseite des Platzes das Antwerpener Rathaus, welches allerdings aufgrund mehrfacher Zerstörung nur mehr in wenigen Teilen als original bezeichnet werden kann. Die Mitte des Platzes ziert der sogenannte Schmuckbrunnen mit dem sagenumwobenen Volkshelden Silvius Brabo.

Da wir in dieser bekannten Hafenstadt bislang noch kein Stück Wasser gesehen haben, gehen wir vom Grote Markt nach Norden in ebendiese Richtung. Wir kommen an ein paar tollen Wandgemälden vorbei, essen ein Falafel-Sandwich zur Stärkung und erreichen schon bald den Jachthafen Willemdok, der schon zum richtigen Hafen zählt, auch wenn die interessanteren Terminals noch weiter nördlich - also näher am Meer - liegen.

Abgesehen von den erwartbaren Schiffen gibt es am Willemdok eine besondere Sehenswürdigkeit - das Museum aan de Stroom, kurz MAS. Das vom wohlbekannten Büro Neutelings Riedijk Architects entworfene Gebäude macht auf jeden Fall einen wahnsinnig tollen ersten Eindruck. In dem Gebäude sind mehrere Museen untergebracht, die thematisch mit der Stadt Antwerpen sowie der Schifffahrt zu tun haben, dementsprechend orientiert sich die Formensprache auch irgendwie an gestapelten Schiffscontainern. Zwischen den Ausstellungsebenen wurden verglaste Bereiche eingefügt, die dem Gebäude eine außerordentliche Leichtigkeit verleihen.

Wir wollen uns auch im Foyer des Gebäudes umsehen und merken dann, dass die verglasten Zonen auch öffentlich zugänglich sind. Über Rolltreppen gelangen wir schnell höher und höher. Da die geschlossenen Ausstellungsbereiche als auch die "Freibereiche" in jedem Geschoß um 90° verdreht werden, bekommen wir insgesamt ein 360°-Panorama über die Stadt Antwerpen und ihren Hafen präsentiert. Von hier oben sieht man nochmal sehr eindrücklich wie gigantisch hoch der Turm der Liebfrauenkathedrale wirklich ist und wie sehr er das gesamte Stadtbild dominiert.

Wieder zurück auf dem Boden gehen wir der Schelde entlang Richtung Süden. Wir kommen an der Burg Steen, der Antwerpener Stadtburg, vorbei. Das mittelalterliche Bauwerk, das nur ein kleiner Teil einer damals bestehenden viel größeren Burg ist, war einst ein Teil der Stadtbefestigung und ist das älteste, noch erhaltene Gebäude der Stadt. Ein interessantes Pub-Quiz-Detail ist, dass die Burg Steen der Schauplatz der Wagner-Oper Lohengrin ist. 

Noch ein Stück weiter südlich stoßen wir auf ein eigenartiges Eingangsbauwerk direkt am Scheldeufer. Es ist die Pforte ... nein, nicht zur Hölle aber zu einem sehr eigenartigen Schlund, dem Sint-Annatunnel. Es handelt sich dabei um einen denkmalgeschützten Fußgängertunnel, der unter der Schelde durchführt. Das Bauwerk aus den 30er-Jahren bindet ein am anderen Ufer gelegenes Wohnviertel an die Innenstadt an. Besonders beeindruckend sind die nach unten führenden, noch original erhaltenen, hölzernen Rolltreppen. Die fast 600 Meter lange Tunnelröhre, deren Ende man nicht sieht, ist aber irgendwie beklemmend, wir gehen da nicht durch und vermerken den Tunnel in Gedanken als einen sehr eigenartigen Ort.

Im Anschluss statten wir der Klosterstraat einen Besuch ab. Antwerpen ist nicht nur aufgrund Rubens und des Hafens bekannt. In neuerer Zeit entwickelte es sich auch zu einem sehr anständigen Design-Mekka für Möbel und Mode. Hier befindet sich die renommierte Königliche Akademie der Schönen Künste, welche eine der ältesten Kunstuniversitäten Europas ist. Die Klosterstraat ist eine Straße in der es viele, wirklich tolle Möbeldesign-Läden gibt, und zwar mit - wie wir feststellen - recht bodenständigen Preisen. Wir stöbern da eine Weile rum und als es zu regnen anfängt, gönnen wir uns ein außerordentlich gutes belgisches Bier in einer Bar.

War da nicht noch etwas, das unweigerlich mit dem Namen Antwerpen verbunden ist? Ach ja, die kubische Modifikation des Kohlenstoffs. Bevor wir mit dem Zug wieder nach Brüssel zurückfahren, schlendern wir durch das bahnhofsnahe gelegene Diamantenviertel und hier sind wir - ehrlich gesagt - ziemlich enttäuscht. In den Schaufenstern funkelt und glitzert es zwar ganz gewaltig, aber der Rahmen, in dem die Steinchen präsentiert werden, ist irgendwie ernüchternd unromantisch. Das Nachkriegs-Architektur-Viertel ist so gar nicht ansehnlich, sogar ziemlich trist und ein wenig heruntergekommen. Das mag zwar daran liegen, dass hier nicht der Endkunde bedient werden soll sondern wohl eher Großhändler, aber den Umschlagplatz einer so glamourösen Handelssparte haben wir uns ganz anderes vorgestellt. Ohne Souvenir machen wir uns also auf Richtung Bahnhof, dessen Ankunftshalle in puncto Glamour das gesamte Diamantenviertel locker in den Schatten stellt.