Auf den Spuren des Warschauer Ghettos
An unserem zweiten Warschau-Tag wollen wir die Hauptstadt teilweise abseits der ausgetretenen Pfade erkunden. Wir begeben uns auf die Spuren des Warschauer Ghettos und besuchen dabei – was sich jetzt vielleicht etwas eigenartig anhört - vor allem Orte, die es gar nicht mehr gibt.
Zuallererst wollen wir aber das komplette Gegenteil von Abwesenheit, den das Stadtbild dominierenden Kulturpalast, näher inspizieren. Für das 44 Etagen zählende Gebäude ließ sich der russische Architekt vom New Yorker Empire State Building inspirieren, und das sieht man auf den ersten Blick. Wir finden es ja etwas skurril, dass ein Symbol des Kapitalismus als Vorbild für ein Prestigeprojekt der Sowjet-Architektur dient, aber gut. Das Gebäude wurde in den frühen 50er-Jahren erbaut und war ein Geschenk der Sowjets an das polnische Volk. Da Letztere massiv unter den Repressalien der Ersteren zu leiden hatten, wurde das Hochhaus allerdings ein Symbol der totalitären Unterdrückung und unter den Polen dementsprechend verhasst. Obwohl seine Existenz auch heute noch ein kontroverses Thema ist, ist der Kulturpalast eines der wenigen erhaltenen Bauwerke des Sozialistischen Realismus und wurde daher auch vor ein paar Jahren unter Denkmalschutz gestellt. Bei aller Hass-Liebe ist der Klotz wohl gekommen, um zu bleiben.
Bei seiner Errichtung zählte der Kulturpalast zu den höchsten Gebäuden Europas und auch heute ist er noch das höchste Bauwerk Polens. Darin untergebracht sind Veranstaltungsräume, Bildungseinrichtungen, ein Kino und Gastronomie. In einem der oberen Stockwerke gibt es eine öffentlich zugängliche Aussichtsplattform, von der wir noch einmal den Blick auf Warschau genießen wollen und wir werden nicht enttäuscht. Bei bestem Frühlingswetter und sehr klarer Luft bekommen wir ein unverstelltes 360°-Panorama präsentiert. Von hier oben sieht man einmal mehr die gigantomanen Dimensionen der in der kommunistischen Ära errichteten Stadtquartiere. Die modernen Hochhäuser um den Warschauer Hauptbahnhof folgen allerdings auch dem Motto "Nicht kleckern, sondern klotzen".
Wieder festen Boden unter den Füßen setzen wir unseren Weg Richtung Norden fort, wo wir bald - in den Boden eingelassen - eine Markierung der ehemals das Warschauer Ghetto umfassenden Mauer passieren. Der jüdische Wohnbezirk wurde von den arischen durch eine 3 Meter hohe Mauer getrennt, bevor das Viertel ab 1943 - nach Niederschlagung des Ghettoaufstands - überhaupt zerstört wurde. Die historische Ghetto-Mauer ist nur mehr an wenigen Stellen in Fragmenten erhalten. Wo sie zerstört wurde, wurden diese Erinnerungsmarkierungen an ihre Stelle gesetzt.
In dem Park, der den Kulturpalast umgibt, befindet sich - schon auf dem Areal des Warschauer Ghettos - ein Denkmal zu Ehren Janusz Korczak. Der polnische Kinderarzt, Kinderbuchautor und Pädagoge setzte sich vor allem für Waisenkinder ein und starb im Vernichtungslager Treblinka.
Noch weiter nördlich kommen wir zu den Mirowska Markthallen, die allerdings bei der Grenzziehung des Warschauer Ghettos von dem Gebiet bewusst ausgenommen wurden. Trotzdem sind die beiden identischen Gebäude vom Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls stumme Zeugen der tragischen Warschauer Historie, wurden doch hier während des Warschauer Aufstands Massenexekutionen an polnischen Zivilisten durchgeführt. Gegen Kriegsende wurden die Gebäude stark beschädigt, allerdings wieder aufgebaut und so gehören sie heute zu den wenigen erhaltenen Vorkriegsbauten des Viertels.
Immer in Richtung Norden gehen wir weiter zur Gedenkstätte des Pawiak-Gefängnisses. Der berüchtigte Ort zur Internierung politischer Häftlinge diente nach der Niederschlagung des Ghettoaufstands als Konzentrationslager. Insgesamt waren dort ca. 100.000 Menschen inhaftiert, von denen etwa 40.000 ermordet wurden. Obwohl der Ort ungemein bedrückend ist, fällt es uns schwer sich die Unzahl an Tragödien, die sich hier abgespielt haben, überhaupt vorzustellen. Während des Warschauer Aufstands 1944 wurde das Gebäude von den Deutschen gesprengt, so dass heute nur mehr die Kellergeschoße erhalten sind, worin ein Museum untergebracht ist.
Lediglich zwei Häuserblocks weiter befinden sich das Museum der Geschichte der polnischen Juden und das bekannte Warschauer Ghetto-Ehrenmal, welches zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahr 1943 errichtet wurde. In seiner heutigen Form existiert es bereits seit 1948, was eindrucksvoll auf die Dringlichkeit und Relevanz des Themas hinweist. Überaus bekannt ist der Ort auch als jener, an dem der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt 1970 auf die Knie fiel, was als Bitte um Vergebung der deutschen Verbrechen im 2. Weltkrieg interpretiert wird.
Das Museum ist klar erkennbar neueren Datums. Es wurde erst 2014 eröffnet und von finnischen Architekten konzipiert. Zusammen mit dem Ghetto-Ehrenmal und der umgebenden Parkanlage bildet es ein angenehm ruhiges, unaufdringliches Ensemble, das dem Gedenken im öffentlichen Raum einen angemessenen Platz gibt.
An der Ulica Stawki befindet sich das Umschlagplatz-Denkmal. Von hier wurden über 300.000 Juden in Vernichtungs- und Konzentrationslager gebracht. Der von Wänden angedeutete Raum symbolisiert einen Güterwaggon. An der inneren Wand des Mahnmals wurden die 400 polnischen und jüdischen Vornamen, die vor dem Krieg am häufigsten waren, in alphabetischer Reihenfolge – von Aba bis Żana – eingemeißelt. Sie betonen das jahrhundertelange Zusammenleben der Juden und Polen in Warschau und die wechselseitige Durchdringung von ihren Kulturen und Religionen. Jeder Name symbolisiert auch 1000 Opfer des Warschauer Ghettos. (Quelle: www.wikipedia.org)
Wir empfinden dieses Mahnmal - ebenso wie das Pawiak-Gefängnis - als besonders beklemmend, da es sich genau an dem Ort befindet, an dem die unfassbaren historischen Ereignisse auch tatsächlich stattfanden. Mit unseren eigenen Füßen stehen wir genau dort, wo lediglich 70 Jahre zuvor das Schicksal Tausender Menschen besiegelt wurde. Wir können es uns nur im Ansatz vorstellen.
Geht man die Ulica Stawki nach Osten kommt man zum "Denkmal für die im Osten Gefallenen und Ermordeten". Konkret wird hier der 500.000 während der sowjetischen Okkupation Deportierten gedacht. Das erst in den 90er-Jahren errichtete Denkmal ist sehr ausdrucksstark. Bahnschwellen, die mit den Ortsnamen von Lagern und Exekutionsorten versehen sind, weisen den Weg zu einem mit Kreuzen beladenen Güterwaggon. Im Gegensatz zu vielen anderen Denkmälern, die wir besucht haben, fehlt hier völlig der städtebauliche Rahmen, was aber vielleicht absichtlich so konzipiert wurde und einer der Gründe dafür ist, dass dieser Ort einem besonders nahe geht. Völlig unbeeindruckt von seiner Umgebung befindet sich die Gedenkstätte auf dem Mittelstreifen der Muranowska-Straße, wo Autos achtlos daran vorbeifahren, man als Besucher aber nachdenklich stehen bleibt.
Auf der Bonifraterska-Straße gehen wir nach Süden und kommen schließlich zum Denkmal des Warschauer Aufstandes von 1944. Es befindet sich vor dem Gebäude des Obersten Gerichts und ist der polnischen Heimatarmee gewidmet, die 63 Tage lange verzweifelt, aber leider erfolglos gegen die deutschen Besatzer ankämpfte. Das martialische Denkmal mit den weit überlebensgroßen Figuren ist schon sehr beeindruckend, aber weniger subtil als die zuvor besuchten. Ein Stück gehen wir noch weiter nach Süden. Auf dem Marschall-Józef-Piłsudski-Platz schließlich beenden wir unseren bewegenden Rundgang durch das aus Erinnerungen und Nicht-Orten bestehende Warschauer Ghetto.
